Offener Brief
an den
Erzbischof Christoph Kardinal SchönbornAm Morgen des 24. Novembers letzten Jahres bekam ich von einer Freundin ein SMS mit der Bitte, warme Kleidung und Schuhe ab Größe 42 nach Traiskirchen zu bringen; da gäbe es Flüchtlinge, die sich auf einen Protestmarsch nach Wien machen wollten, und es seien einige darunter, die nur unzureichend dafür ausgerüstet seien. Zwei Stunden später konnte ich feststellen, dass das “nur unzureichend dafür ausgerüstet” zum Teil bedeutete: Plastik-Flip-flops über dünnen Socken. (Zur Erinnerung: Am 24. November 2012 herrschte im Raum Wien nicht zufälligerweise untypisch warmes Wetter; es war kalt und feucht.)
Beim Anblick eines Menschen, der sich in einem so unglaublich wohlhabenden Land wie Österreich im Winter in Schlapfen ohne Socken an den Füßen auf einen 35 km langen Marsch macht, um seine Rechte auf eine menschenwürdige Behandlung von Seiten der österreichischen Behörden einzufordern, hat man meiner Meinung nach zwei Möglichkeiten: Man kann tun, als hätte man nichts gesehen und sich umdrehen und wieder gehen; oder man kann sich entscheiden, diesem Menschen Schuhe zu geben, damit er diesen Weg einigermaßen schmerzfrei und in Würde gehen kann.
Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden und die Schuhe, die mir ein Freund mitgegeben hatte, einem Mann gegeben, der nicht einmal Socken anhatte.
Heute Abend habe ich dem österreichischen Rundfunk entnommen, dass Sie, Kardinal Schönborn, den Unterstützer_innen der Flüchtlinge in der Votivkirche vorwerfen, keinen konkreten Dienst für die Flüchtlinge zu leisten, sondern sie nur für ihre eigene Ideologie zu missbrauchen.
Diese Ihre Behauptung finde ich so unglaublich empörend, dass ich dafür nur schwer Worte finde. Sie ist eine so beleidigende Lüge, dass mir übel wird.
Seit zwei Monaten versuchen Menschen, die ähnlich wie ich einfach nicht wegschauen können, alles in ihrem jeweiligen Rahmen Mögliche zu tun, um die Flüchtlinge in der Votivkirche, die sich selbst und selbständig zu ihrem Handeln entschlossen haben und jeden Tag neu entschließen, in ihrem Aufschrei zu unterstützen;
es sind solche Menschen, die zu Hause oder in den Räumlichkeiten solidarischer Restaurants oder Initiativen Suppe gekocht und in die Kirche gebracht haben, als die Flüchtlinge in Hungerstreik waren. Und die jetzt, nachdem sich die Protestierenden entschlossen haben, den Hungerstreik zu unterbrechen, warmes Essen bringen;
es sind solche Menschen, die Matratzen, Decken und Schlafsäcke organisiert haben, lange bevor die Caritas mal ein paar Heizdecken gebracht hat;
es sind solche Menschen, die neben ihrer Berufstätigkeit oder neben ihrem Studium sich mehrere Stunden pro Woche abzwacken, um den Flüchtlingen Deutschunterricht zu geben;
es sind solche Menschen, die unermüdlich Pressearbeit machen und denen es zu danken ist, dass die Anliegen der Refugees einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden;
und es sind solche Menschen, die bereit sind, sich auseinanderzusetzen, sich Fragen stellen zu lassen und sich selbst zu stellen und nach Antworten zu suchen oft schmerzhafte Prozesse, weil es meist viel bequemer wäre, an Altbekanntem/Altgedachtem festzuhalten, anstatt sich etwas Neues zu überlegen.Unter all diesen Menschen mögen auch Christen sein, katholische wie evangelische, und sie mögen ihre christliche Ideologie ernst nehmen und in die Tat umzusetzen versuchen, so wie andere das gleiche aus anderen Motiven tun mögen. Aber als Institution hat die katholische Kirche in dieser Angelegenheit bislang in voller Länge versagt. Und wenn Sie, Herr Kardinal, nun die Unterstützer_innen jener Menschen, die in unserem Land die Möglichkeit nach einem Leben in Würde suchen, beschuldigen, “keinen konkreten Dienst” an den Flüchtlingen zu leisten, kann von bloßem Versagen bezüglich der Suche nach einer Lösung nicht mehr gesprochen werden. Vielmehr tragen Sie damit zu einer Eskalation der Situation bei und schütten Öl ins Feuer der Rassisten und Ausländerhetzer.
Vielleicht ist es naiv, aber ich nehme doch an, dass jemand, der eine so mächtige Position innehat wie Sie, sich in der Öffentlichkeit nur in vollem Bewusstsein dessen, was er sagt, äußert. Was also, Herr Kardinal, bezwecken Sie mit dieser Äußerung am heutigen Tag?Ich schreibe diesen Brief als Individuum, als selbständig denkende, ihre Umwelt und die Gesellschaft, in der sie lebt, beobachtende und immer von Neuem bewertende Frau, weder Mitglied irgendeiner Partei noch Anhängerin einer Ideologie; als eine, die am eigenen Leib als Angehörige eines ehemaligen Asylwerbers seit vielen Jahren jeden Tag erlebt, was dieser menschenunwürdige und verachtende Umgang mit Flüchtlingen/Asylsuchenden/Migrant_innen in Österreich mit einem Menschen anrichtet, einem Menschen antut; als eine, die den aktuellen Protest der Flüchtlinge in der Votivkirche nur unzulänglich unterstützen kann, weil Zeit und Energie immer zu knapp sind, aber unglaublich stolz ist auf die Menschen, die es wagen, sich aus ihrer Position der Schwäche und des Klein-gehalten-Werdens zu erheben und auf sich aufmerksam zu machen; und ich bin stolz, dass es in diesem Land gegen alle Widerstände von Politik und Kirche Menschen gibt, die diesen Protest unterstützen.
Herr Kardinal, ich übe mich nun nicht in Demut, nicht in christlicher und auch in sonst keiner. Nein, im Gegenteil: Ich richte nun an Sie die Forderung sich bei allen, die sich in den letzten Wochen in irgendeiner Weise solidarisch erklärt haben mit den Protestierenden in der Votivkirche und deren Unterstützer_innen, in aller gebotenen Form öffentlich zu entschuldigen.
Gabriele Adébisi-Schuster
Wien, 28. Jänner 2013Ergeht an:
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