Hungern um den Nullpunkt
Dutzende Asylbewerber haben einen Monat lang in einer Wiener Kirche gehungert. Sie fordern ein faires Asylverfahren und eine menschenwürdige Grundversorgung. Österreichs Asylpolitik kommt in Bewegung. Seit Dienstag ist der Hungerstreik ausgesetzt.
Von Selina Stucki, Wien
Die Eskalation war vorhersehbar. Im November kamen im Asylbetreuungszentrum Traiskirchen auf ein Bett drei Flüchtlinge. Daraufhin entschieden sich zweihundert Zentrumsbewohner, die Öffentlichkeit in der Hauptstadt auf ihre Lage aufmerksam zu machen und mehr Menschlichkeit in der Asylbetreuung einzufordern. Zu Fuss gelangten die Asylsuchenden ins 35 Kilometer entfernte Wien, wo sie im zentral gelegenen Sigmund-Freud-Park ein Protestcamp errichteten. Zwei Tage später fanden die ersten Kundgebungen statt; mehrere Hundert Menschen sprachen den Protestierenden ihre Solidarität aus und unterstützten sie mit Zelten, Decken und warmer Suppe. Asylsuchende aus ganz Österreich nahmen ebenfalls an den Aktionen teil.
Nach wiederholten Polizeikontrollen im Protestcamp suchten rund sechzig Flüchtlinge kurz vor Weihnachten in der nahe gelegenen Votivkirche Schutz. Seither harren sie bei Temperaturen um den Nullpunkt im katholischen Gotteshaus aus, zwei Drittel verweigerten einen Monat lang jegliche Nahrung. Das Camp dagegen wurde am 28. Dezember durch ein polizeiliches Grossaufgebot niedergewalzt.
Zögerliche Antwort der Politik
Die in der Kirche Protestierenden, alles Männer, stammen mehrheitlich aus Pakistan. Die Asylanerkennungsquote dieser Männer liegt bei einem Prozent. Die anderen werden ausnahmslos zurückgeschickt, obwohl das Aussenministerium auf seiner Homepage «aufgrund hoher Terrorgefahr» vor Reisen nach Pakistan warnt. Die Forderungen der Protestierenden betreffen fundamentale Rechte: ein schnelles, faires Asylverfahren, die Grundversorgung aller Asylsuchenden, solange sie in Österreich sind, und die Möglichkeit, während des Verfahrens einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Auch wehren sie sich gegen Ausschaffungen.
Ali Asmat hat in den vergangenen vier Wochen zwölf Kilo an Gewicht verloren. Nach Österreich ist er gekommen, weil er dem Krieg entfliehen wollte: «Seit ich auf der Welt bin, kommt und geht der Krieg», sagt der 28-Jährige. Er stammt aus dem Bezirk Swat, einem der umkämpften Gebiete Pakistans. «Wir wünschen uns nur eine menschliche Behandlung», sagt er und ergänzt: «Ich will für mich selbst sorgen können und niemandem zur Last fallen.»
Lange Zeit blieben die Forderungen der Protestierenden von der Politik ungehört: Erst zwei Wochen nach Beginn des Hungerstreiks zeigte sich Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) zu einem Gespräch mit den Flüchtlingen bereit. Sie bekräftigte dabei jedoch, dass es keine strukturellen Änderungen im Asylwesen geben werde, da dieses «sehr gut funktioniert». Mittlerweile spricht sich allerdings die SPÖ für einen vereinfachten Zugang zu Arbeit für die Asylsuchenden nach einer Verfahrensdauer von sechs Monaten aus. Auch eine der grössten Gewerkschaften, die Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier (GPA-DJP), stellt sich hinter einzelne Forderungen der Asylsuchenden.
Umstrittene Rolle der Caritas
Laut dem Sprecher der Caritas Wien, Klaus Schwertner, gehen die Verhandlungen nun in die richtige Richtung, wenn auch langsam. Eine schnelle Lösung sei dringlich nötig, denn die Lage spitze sich immer mehr zu: «Die Streikenden sind am Ende der Kräfte. 25 Mal musste die Ambulanz schon ausrücken.» Am Dienstagabend haben die Asylbewerber deshalb entschieden, ihren Hungerstreik vorerst für zehn Tage auszusetzen. Sie bleiben aber in der Kirche. Die Caritas zeigt sich über den Entscheid «erleichtert».
Die Rolle der Caritas ist allerdings umstritten. Ursprünglich von der Pfarrei gebeten, sich um die Asylsuchenden in der Votivkirche zu kümmern, habe die Caritas nun das «Betreuungs- und Zugangsmonopol zu den Hungerstreikenden», wie ein Sprecher der Unterstützungsbewegung kritisch formuliert. Eine von der Caritas beauftragte Sicherheitsfirma kontrolliere den Zugang zur Kirche. «Dies macht es uns schwer, die Asylsuchenden zu begleiten.» Die Caritas dagegen spricht von «linken Chaoten», die versuchen würden, die Asylbewerber zu instrumentalisieren. Die Eingangskontrolle sei deshalb zu deren Schutz.
Die Asylgeschäfte der Ors:
Ein «Knebelvertrag» aus dem Innenministerium
Seit Januar 2012 ist die private Schweizer Firma ORS Service AG für die Betreuung der Flüchtlinge im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen zuständig. Eine ehemalige Kaserne dient als Übergangsquartier, in dem die Flüchtlinge befragt werden. Danach sollten sie auf die Bundesländer verteilt werden. Allerdings passiert das nicht so schnell wie ursprünglich vorgesehen. Deshalb war das Zentrum Traiskirchen in den letzten Monaten überfüllt.
Die ORS erntete schon vor Beginn ihrer Arbeit in Traiskirchen Kritik: Es sei fragwürdig, eine sensible Aufgabe wie die Betreuung von Asylsuchenden einer gewinnorientierten Firma zu überlassen, schrieb die Wochenzeitung «Falter». Die Hilfsorganisation Caritas bewarb sich damals nicht um den Betreuungsposten. Man habe die Bedingungen des Innenministeriums als «Knebelvertrag» empfunden, sagt der Sprecher der Caritas Wien, Klaus Schwertner, gegenüber der WOZ. Der Vertrag untersage jede Kommunikation gegen aussen.
Auch in der Schweiz steht die ORS immer wieder in der Kritik. Das Unternehmen erhielt in den letzten fünf Jahren mindestens 41,2 Millionen Franken für die Betreuung in den fünf Empfangs- und Verfahrenszentren des Bundes (siehe WOZ Nr. 51/12). In der temporären Unterkunft Eigenthal bei Kriens wurden Asylsuchende schikaniert und mangelhaft ärztlich versorgt. Ausserdem war die Betreuung und Ernährung der Flüchtlingskinder mangelhaft. Die ORS musste Fehler eingestehen und den Zentrumsleiter entlassen. Kritik gegen das Unternehmen wurde auch beim mittlerweile geschlossenen Bundeszentrum Tschorren auf dem Hasliberg und der Notunterkunft Hochfeld in Bern laut.
Ganzer Artikel mit Fotos und Weblinks: http://www.woz.ch/1304/asylpolitik-in-oesterreich/hungern-um-den-nullpunkt